„Es passiert […,] dass […] Vollmachten missbraucht werden und die Bevollmächtigten den Vollmachtgeber schaden, indem sie unzureichende oder gar keine Pflege beantragen, notwendige Arztbesuche nicht veranlassen, Behördengänge nicht erledigen oder finanziell falsche Entscheidungen treffen, Gelder verschwenden oder gar für sich verbrauchen. Die Folgen sind Vermögensverlust, Wohnungsverlust, Einbußen in der Lebensqualität bis hin zu Pflegeschäden und Kontaktverlust zu Angehörigen und Freunden.
[…]
Was alles geschehen kann, wurde in verschiedenen Beiträgen der ARD zu diesem Thema eindrucksvoll dokumentiert (1)(2)(3). Die Fernsehbeiträge veranschaulichen den finanziellen Missbrauch, welcher oft auch als Erbschleicherei bezeichnet wird. […]
Doch polizeiliche Hilfe ist nur schwer und teilweise gar nicht möglich bzw. kommt zu spät. Die Polizei Berlin versucht bereits seit längerem, auf die Gefahren und Risiken hinzuweisen, indem Flyer zum Thema aufklären und Vorträge an geeigneten Stellen publiziert werden.“ (4)
In diesem Flyer der Polizei Berlin heißt es u.a.: „Privat erteilte Vollmachten verhindern zunächst eine gerichtliche Kontrolle! Auch staatliche Hilfe ist dann kaum möglich.“ (5)
Aber warum wird von staatlicher Seite so sehr für die Vorsorgevollmacht geworben? Warum hat sich eine
„Vorsorgevollmachtindustrie“ entwickelt?
Es geht wie immer um Geld – um viel Geld!
Staatlicherseits soll durch Vorsorgevollmachten zum einen rechtliche Betreuungen vermieden werden, denn diese belasten die Landesjustizkassen. Zum anderen soll die Selbstbestimmung der Bürgerinnen und Bürger gestärkt werden. Zu der Frage, welches dieser beiden Ziele von den Landesjustizministerien – mit Blick auf deren Haushalte – als wichtiger erachtet wird, möchten wir uns nicht äußern.
Fatal ist, dass seitens der „Vorsorgevollmachtindustrie“ – hierzu zählen Rechtsanwälte, Notare, Beratungsstellen, Vereine, Verbände, Behörden, Vordruckanbieter, Verlage usw. – bei der Werbung und Beratung oft betont wird, dass man durch eine solche Vollmacht verhindern könne „hilflos in die Hände von betrügerischen Betreuern“ zu fallen. Als Beweis werden dann häufig Beispiele aus dem schlecht oder oft sogar falsch recherchierten Skandaljournalismus angeführt. Dieses Argument verkennt aber völlig die Realität. Die Deutsche Polizeihochschule Münster und die Leibniz Universität
Hannover halten im Februar 2019 in ihrem Bericht „Vermögensdelikte in Betreuungsverhältnissen“ (6) an das Bundesministerium der Justiz und für den Verbraucherschutz fest, dass die Gefahr, tatsächlich an einen betrügerischen Berufsbetreuer zu gelangen, relativ gering ist. Ganz im Gegenteil: ein großer Teil der Vermögensdelikte in der Betreuung wird durch Ehrenamtlerinnen und Ehrenamtler begangen. Vergleicht man die wenigen Vermögensdelikte durch Berufsbetreuerinnen und Berufsbetreuer mit der Kriminalitätsrate anderer Berufsgruppen, so stellt man fest, dass beispielsweise im deutschen Gesundheitswesen 6 bis 20 Milliarden Euro pro Jahr durch Abrechnungsbetrug erschlichen werden oder auf andere Weise in die falschen Hände geraten – dieser Vergleich zeigt mehr als deutlich, dass es in der Berufsgruppe der Rechtlichen Betreuerinnen und Betreuer vergleichsweise sehr wenig „schwarze Schafe“ gibt. Anders ist es bei der hoch angesehenen Ärzteschaft, die durch das Bundeskriminalamt 2021 geschätzte 60 Millionen im Gesundheitswesen ergaunert haben (7). Bei hoher Dunkelziffer.
Offensichtlich wirken die Kontrollmechanismen im Betreuungswesen; vielleicht (noch) zu wenig oder nicht ganz perfekt, aber immerhin. Nicht verkannt werden darf zudem, dass mit
der Betreuungsrechtsreform zum 1. Januar 2023 einige weitere, von Kriminologen geforderte, Kontrollen zur Betrugsverhinderung in der rechtlichen Betreuung eingeführt wurden.
In Anbetracht dieser Faktenlage rät die Vollmachtlobby somit leider oft im eigentlichen Sinne: „Lieber gar keine Kontrolle (bei der Vorsorgevollmacht) als vielleicht zu wenig Kontrolle (bei der rechtlichen Betreuung)“. Absurd.
Die Problematik um Vollmachtmissbrauch und Erbschleicherei sowie die hohe Zahl der Geschädigten – bei zusätzlich sehr hoher Dunkelziffer – ist bekannt. So hat das LKA Berlin beispielsweise inzwischen eine Fachdienststelle eingerichtet: jährlich 60 bis 90 Fälle von Vollmachtmissbrauch werden dort bearbeitet (8).
„Jede noch so gut vorbereitete und womöglich notariell beurkundete Vollmacht ist unter derzeitigen Bedingungen ohne Weiteres auszuhebeln. Der Täter benötigt ein einfaches Blatt Papier und ein Schreibgerät. Damit fertigt er eine neue Vollmacht. Wenn er geschickt ist, formuliert er Gründe ein, warum die bisherige Vollmacht ungültig wurde. Damit suggeriert er, dass der Vollmachtgeber willentlich und in Kenntnis handelt. Er lässt sie vom geschäftsunfähigen Opfer unterschreiben. Mit dieser Vollmacht handelt der Täter. Er verfügt über die Konten, verkauft Immobilien, verbringt den Vollmachtgeber an einen Ort, der dem bisherigen Bevollmächtigten nicht bekannt ist oder gar ins Ausland, weil da die Pflegekosten geringer und die Zugriffsmöglichkeiten der
Angehörigen (und des Staates) beschränkter sind. Ehe der rechtmäßige bisherige Vollmachtinhaber sich versieht, ist sein Schützling weg und sind die Konten leer.
Ein Horrorszenario? Mitnichten, es ist passiert!“, schreibt Annett Mau, Landeskriminalamt Berlin (7).
Das Problem ist also bekannt und schon lange Teil der polizeilichen Kriminalprävention (8). Hier ist die Politik gefragt, der massenhaften Schädigung von insbesondere älteren Menschen durch Vollmachtmissbrauch und Erbschleicherei mithilfe entsprechender Gesetze – wie von der Polizei vorgeschlagen (6)(9) – Einhalt zu gebieten.
Derzeit sollte jede Beratung zur Vorsorgevollmacht auch über die erheblichen Gefahren durch Missbrauch und Erbschleicherei informieren, beispielsweise durch Aushändigung des Flyers „VORSICHT: VORSORGEVOLLMACHT“ (5) der Berliner Polizei.
Uwe Fillsack